Kommunikation und soziale Interaktionen sind für Kinder mit Autismus-Spektrum-Störung nicht immer ganz einfach. Viele von ihnen haben Schwierigkeiten, ihre Emotionen in Worte zu fassen oder mit ihrer Umwelt in Kontakt zu treten. Doch was, wenn Musik genau hier ansetzen könnte?

Musikalische Ausdrucksformen bieten autistischen Kindern alternative Wege der Kommunikation und Selbstwahrnehmung. Doch welche wissenschaftlichen Erkenntnisse gibt es zur Wirksamkeit von Musiktherapie bei Autismus? Wie kann sie konkret helfen? Und welche außergewöhnlichen Erfolge gibt es? Diese Fragen beleuchtet der folgende Beitrag.

Musiktherapie bei Autismus: Zwischen kreativem Ausdruck und therapeutischem Potenzial

Autistische Kinder profitieren in vielerlei Hinsicht von Musiktherapie.1, 2, 3, 4 Diese Therapieform wird seit Jahrzehnten erfolgreich bei Autismus eingesetzt.1 Doch um das Potenzial der Musiktherapie zu verstehen, ist eine klare Unterscheidung wichtig: zwischen Musik als kreativer Ausdrucksform und Musik im therapeutischen Kontext.

Während beide Ansätze wertvoll sind, verfolgen therapeutische Maßnahmen konkrete Ziele zur Entwicklungsförderung. Die Musiktherapie bietet hierbei vielfältige, gut erforschte Techniken und Methoden, die gezielt zur Förderung autistischer Kinder eingesetzt werden können. Musik als reine Ausdrucksform hingegen ermöglicht Kindern mit Autismus vor allem eine eigenständige kreative Selbstverwirklichung ohne expliziten therapeutischen Fokus.

Wie hilft Musiktherapie autistischen Kindern?

Die positiven Effekte der Musiktherapie zeigen sich auf verschiedenen Ebenen: von der nonverbalen Kommunikation über die emotionale Verarbeitung bis hin zur Förderung sozialer Kompetenzen. Diese Therapieform bietet autistischen Kindern vielfältige Unterstützungsmöglichkeiten:1, 2, 3, 4

  • Nonverbale Kommunikation: Musik ermöglicht es autistischen Kindern, Gedanken, Emotionen und Erfahrungen auszudrücken – ganz ohne Worte. Dies fördert nicht nur ihre kreativen Fähigkeiten, sondern auch ihr Selbstbewusstsein.

  • Emotionale Verarbeitung: Abstrakte Gefühle lassen sich in Klänge und Rhythmen übertragen. Dadurch werden komplexe Emotionen greifbarer und verständlicher.

  • Selbstausdruck und Identitätsentwicklung: Studien zeigen, dass Musiktherapie dazu beitragen kann, sprachliche und soziale Kompetenzen zu stärken und ein besseres Verständnis für zwischenmenschliche Signale zu entwickeln.

  • Sicherer Raum für Entfaltung: Musik schafft einen geschützten Rahmen zur Selbstentdeckung, regt die Kreativität an und stärkt das Selbstwertgefühl.

  • Positive Auswirkungen auf Motorik und Kognition: Rhythmische Übungen und musikalische Interaktionen werden gezielt eingesetzt, um motorische, kognitive und soziale Kommunikationsfähigkeiten zu fördern.

  • Angstreduktion und emotionale Regulation: Musik hilft nachweislich, Angstzustände zu reduzieren, indem sie die emotionale Regulation und sensorische Integration unterstützt.

Was sagt die Wissenschaft? Musiktherapie bei Autismus im Faktencheck4

Eine große wissenschaftliche Übersichtsstudie („Cochrane-Review“) aus dem Jahr 2022 hat 26 Studien mit insgesamt 1.165 Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Autismus ausgewertet. Das Ergebnis: Musiktherapie kann in mehreren wichtigen Bereichen helfen – vor allem dann, wenn sie frühzeitig beginnt und individuell angepasst wird. Kinder, die Musiktherapie erhielten, machten insgesamt häufiger spürbare Fortschritte im Verhalten – etwa im Umgang mit anderen oder bei alltäglichen Aufgaben. Die Chance auf eine solche positive Entwicklung war im Vergleich zu anderen Behandlungen um rund 22 % höher. Auch die Lebensqualität verbesserte sich leicht bis moderat, und die Schwere der Autismus-Symptome nahm deutlich ab – mit einer sogenannten großen Effektstärke (–0,83), was bedeutet: Der Unterschied war nicht nur messbar, sondern im Alltag deutlich spürbar.

Effektstärke einfach erklärt: Sie zeigt, wie stark der Unterschied zwischen zwei Gruppen wirklich ist. Dabei zählt der Betrag des Wertes, also wie weit der Wert von null entfernt ist – egal ob positiv oder negativ. Werte ab 0,8 (bzw. –0,8) gelten als groß – also als klar wahrnehmbare Verbesserung, nicht nur als statistischer Zufall.

Warum Musiktherapie so gut wirkt, lässt sich auch neurologisch erklären:1 Musik aktiviert gleichzeitig mehrere Hirnregionen – etwa die für Bewegung, Gefühle und Sinneswahrnehmung. Diese gleichzeitige Aktivierung kann Verbindungen im Gehirn stärken, die bei autistischen Kindern oft schwächer ausgeprägt sind. Besonders in jungen Jahren wirkt Musik wie ein „Training“ für das Gehirn und kann langfristige Verbesserungen im sozialen Verhalten und Denken unterstützen.

Allerdings gilt: Musiktherapie ist keine Lösung nach Schema F. Jedes Kind reagiert anders – deshalb ist es entscheidend, dass die Therapie auf die individuellen Bedürfnisse und Stärken des Kindes abgestimmt wird. Nur so kann sie ihr volles Potenzial entfalten – als sichere, kreative und wissenschaftlich fundierte Begleitung im Alltag mit Autismus.

Ein besonderes Beispiel: das Musikwunderkind mit Autismus

Nicht nur, dass Musiktherapie bei Autismus maßgebliche Fortschritte auf vielen Ebenen bietet – es gibt sogar bemerkenswerte Einzelfälle. Ein Beispiel ist Alia*, ein autistisches Kind in Jordanien, das in einer Musiktherapie außergewöhnliche Fortschritte machte.3

Alia zeigte anfangs unbewusste Fingerbewegungen, die an ein imaginäres Klavierspiel erinnerten. Daraufhin begannen ihre Therapeuten mit einer gezielten Musiktherapie am Klavier.

Die Therapie erstreckte sich über sechs Monate und war in drei Phasen unterteilt: Aufwärmen, Klavierübungen und einen beruhigenden Abschluss. In den ersten zwölf Wochen erhielt Alia täglich 45-minütige Sitzungen, danach zweimal pro Woche. Anfangs konzentrierte sie sich auf einfache Fingerübungen zur Verbesserung der Feinmotorik, später auf improvisiertes Spielen und das Erlernen von Melodien.

Nach sechs Monaten zeigte Alia beeindruckende Fortschritte: Sie konnte komplexere Musikstücke spielen, ihre Emotionen besser regulieren und verhielt sich im Alltag strukturierter. Ihre Eltern berichteten von gesteigerter Disziplin und verbesserten sozialen Interaktionen.

Dieser Fall verdeutlicht, dass Musiktherapie tiefgreifende positive Effekte haben kann. Dennoch bleibt es essenziell, jedes Kind individuell zu betrachten, da Therapieerfolge stark von den persönlichen Fähigkeiten und Rahmenbedingungen abhängen.

Musik als Brücke zur Welt

Musiktherapie eröffnet Kindern mit Autismus neue Ausdrucks- und Kommunikationswege. Sie kann emotionale und soziale Barrieren überwinden, das allgemeine Wohlbefinden verbessern und gezielt an individuellen Entwicklungszielen ansetzen.

Wissenschaftliche Erkenntnisse belegen den hohen Nutzen – insbesondere, wenn Musiktherapie frühzeitig beginnt und auf die persönlichen Bedürfnisse des Kindes abgestimmt ist. So wird Musik zu einer kraftvollen Brücke zwischen Innenwelt und Außenwelt – und zu einem wirkungsvollen Baustein in der Begleitung autistischer Kinder.

  1. Gulati, S., Kamila, G., Hameed, B., & Newton, C. R. (2024). Brushing away barriers: The healing touch of art as an intervention in children with autism. Autism, 28(9), 2149-2151. https://doi.org/10.1177/13623613241274845 (Original work published 2024)
  2. Vaiouli, P., & Andreou, G. (2017). Communication and Language Development of Young Children With Autism: A Review of Research in Music. Communication Disorders Quarterly, 39(2), 323-329. https://doi.org/10.1177/1525740117705117 (Original work published 2018)
  3. Hatahet M, Sárváry A, Sárváry A. Music Therapy as a Tool to Unveil Musical Potential or Hidden Savant in Children with Autism: A Case Study. Children (Basel). 2024 Dec 19;11(12):1543. doi: 10.3390/children11121543. PMID: 39767972; PMCID: PMC11727516.
  4. Geretsegger M., Fusar-Poli L., Elefant C., Mössler K. A., Vitale G., Gold C. (2022). Music therapy for autistic people. The Cochrane Database of Systematic Reviews, 5(5), CD004381. https://doi.org/10.1002/14651858.CD004381.pub4

Zuletzt aktualisiert am 03.03.2025