Formen von Autismus
Autismus: Formen und Ausprägungen – was gehört zum Spektrum?
Das Wissen über Autismus und seine Formen hat sich in den vergangenen Jahren enorm erweitert. Anstatt wie früher klar abgegrenzte Varianten wie das Asperger-Syndrom oder Frühkindlichen Autismus zu definieren, wird heute nach verschiedenen Ausprägungen innerhalb eines Spektrums unterschieden. Innerhalb dieses Spektrums bewegen sich sowohl Menschen mit einem tiefgreifenden Störungsbild, die z. B. rund um die Uhr Betreuung benötigen, als auch Autistinnen und Autisten, die ihr Leben eigenständig und unabhängig gestalten.
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Autismus-Spektrum: breit gefächert und divers
„Kennst du einen Autisten, kennst du EINEN Autisten“ heißt es oft, wenn von Menschen mit Autismus die Rede ist. Zwar haben viele Autistinnen und Autisten bestimmte Symptome gemeinsam, dennoch sind die Ausprägungen sehr unterschiedlich und individuell und es ist schwierig, allgemeingültige Kriterien für Autismus festzulegen. Im Kontext der neurologischen Vielfalt hat sich in den vergangenen Jahren auch der Begriff der ‚Neurodiversität‘ verbreitet.
Was ist Neurodiversität?
Das Konzept der Neurodiversität basiert auf der Annahme, dass es für die Entwicklung des Gehirns und für die menschliche Wahrnehmung nicht einen ‚richtigen‘ Weg gibt. Ähnlich der biologischen Vielfalt gibt es auch eine Vielfalt im Denken, im Lernen und im Verhalten. Wir erleben unsere Umwelt auf verschiedene Arten und interagieren mit ihr – Unterschiede gelten nicht als Defizite. Ausgehend von diesem Konzept werden Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) oder auch die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) nicht als krankhaft, sondern als neurodivergente Erscheinungsformen betrachtet.1, 2
Der Begriff der Neurodiversität bietet zum Teil eine Alternative zur medizinischen Sicht auf Autismus, ist aber nicht unumstritten. Kritische Stimmen merken z. B. an, dass für Autistinnen und Autisten, die starke geistige Einschränkungen haben und umfassende Unterstützung benötigen, eine Einstufung als divers und nicht krankhaft unbedeutend ist. Auch besteht die Befürchtung, dass die Therapiebedürftigkeit einigen Menschen mit Autismus abgesprochen werden könnte. Unabhängig davon bietet die Neurodiversitätsbewegung aber Ansätze, die menschliche Vielfalt wertzuschätzen und vermeintlichen Defiziten reflektiert zu begegnen.2
Autismus: Formen aus medizinischer Sicht
Aus der Sicht der Medizin gilt Autismus als eine neurologische Entwicklungsstörung, die unter anderem mit sozialen und kommunikativen Einschränkungen einhergeht. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) gibt seit vielen Jahrzehnten ein internationales Klassifikationssystem für medizinische Diagnosen heraus, die sogenannte ICD (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems). Mit der elften Version der ICD, die zu Beginn des Jahres 2022 in Kraft trat, schlägt sich die Weiterentwicklung der Definition von Autismus als Spektrum in der Diagnostik nieder.3, 4
Internationale Klassifizierung von Autismus: Formen nach ICD-11
Nach der ICD-11 werden Autismus-Spektrum-Störungen je nach Beeinträchtigung der Intelligenzentwicklung bzw. nach Beeinträchtigung der funktionellen Sprache differenziert – also z. B., ob Betroffene fähig sind, persönliche Bedürfnisse und Wünsche zu formulieren. In der ICD-11 werden in erster Linie fünf Formen von Autismus unterschieden:3
Formen der Autismus-Spektrum-Störung (ASS) nach ICD-11.
Ältere Klassifizierung von Autismus: Formen nach ICD-10
Die Vorgängerversion der ICD-11, das Klassifikationssystem ICD-10, fand lange Zeit Anwendung in der medizinischen Diagnostik. Gemäß der ICD-10 unterscheidet man drei Formen von Autismus: Frühkindlicher Autismus, Atypischer Autismus und Asperger-Syndrom. Auch wenn die Klassifikation überarbeitet wurde, sind diese Diagnosen noch verbreitet. ICD-10 ist im deutschen Gesundheitswesen so stark integriert, dass der Übergang zu ICD-11 einige Jahre in Anspruch nehmen wird.5, 6
Formen von Autismus nach ICD-10.
Frühkindlicher Autismus
Nach der ICD-10 ist Frühkindlicher Autismus eine tiefgreifende Störung, die durch eine abnorme oder beeinträchtigte Entwicklung definiert ist und bei Kindern vor dem dritten Lebensjahr in Erscheinung tritt. Zu den Kennzeichen gehören eine eingeschränkte soziale Interaktion und Kommunikation. Außerdem zeigen die Kinder stereotype, sich wiederholende Verhaltensweisen und haben zusätzlich oft Phobien sowie ein problematisches Essverhalten und Schlafstörungen.7
Atypischer Autismus
Gemäß der ICD-10 liegt ein Atypischer Autismus vor, wenn die diagnostischen Kriterien des Frühkindlichen Autismus nur zum Teil erfüllt werden oder wenn die Symptome erst nach dem dritten Lebensjahr auftreten. Besonders häufig ist Atypischer Autismus bei Menschen mit einer starken Intelligenzminderung bzw. mit einer schweren Sprachentwicklungsstörung. Synonym zum Atypischen Autismus heißt es auch ‚Intelligenzminderung mit autistischen Zügen‘.7
Asperger-Autismus
Beim Asperger-Autismus bzw. Asperger-Syndrom zeigen Betroffene Auffälligkeiten in der sozialen Interaktion und Kommunikation. Außerdem neigen sie zu sich wiederholenden Verhaltensweisen und können ausgeprägte Spezialinteressen haben. Allerdings ist die Entwicklung nicht verzögert und die sprachlichen und kognitiven Fähigkeiten sind nicht eingeschränkt. Auffallend ist eine gewisse Ungeschicklichkeit. Manche Menschen mit Asperger-Syndrom leiden an Psychosen.7
Woher kommt der Name Asperger-Autismus?
Der Name des Asperger-Syndroms geht auf den österreichischen Kinderarzt Hans Asperger zurück. Als einer der ersten Wissenschaftler beschrieb er in den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts Autismus. Die von Hans Asperger untersuchten Jungen neigten zur sozialen Isolation und hatten Schwierigkeiten in der Kommunikation. Die Kinder zeigten zwar keine Verzögerung bei der Sprachentwicklung, doch ihr Satzbau, das verwendete Vokabular und auch die Betonung mancher Wörter waren untypisch.8 Viele Jahrzehnte später hielt der Asperger-Autismus Einzug in die medizinische Diagnostik. Mit Übergang zu ICD-11 geht die Diagnose im Autismus-Spektrum auf.