Das Familienleben ist oft ein komplexes Netz aus Beziehungen und Erwartungen, das durch ein autistisches Kind noch herausfordernder wird. Gerade Geschwister erleben ihre Rolle anders, wenn sie mit den besonderen Bedürfnissen eines autistischen Bruders oder einer autistischen Schwester umgehen müssen. Diese Situation birgt das Potenzial für Krisen, aber auch für tiefe Bindungen und persönliche Entwicklung.1 Inez Maus, Autorin und Mutter eines autistischen Kindes, widmet sich seit über 20 Jahren dem Thema Geschwisterbeziehungen in Familien mit einem autistischen Kind. Dieser Artikel fasst zentrale Ansätze ihrer Arbeit zusammen und dient als kurzer Leitfaden zur Unterstützung der Geschwisterbeziehung.

Aktuelle Studienlage: Ein gemischtes Bild

Das Thema „Geschwister von Kindern mit Autismus“ hat in der wissenschaftlichen Forschung bisher nur begrenzte Aufmerksamkeit erhalten, und die vorhandenen Studien zeichnen ein recht unterschiedliches Bild.1 Während einige Studien darauf hinweisen, dass Geschwister autistischer Kinder oft mit Zukunftsängsten und Unsicherheit zu kämpfen haben2, zeigen andere eine tiefe Verbundenheit und sogar Bewunderung für ihr autistisches Geschwisterkind3. Diese widersprüchlichen Ergebnisse verdeutlichen, wie vielfältig die Erfahrungen von Geschwistern in solchen Familien sind. Trotz dieser unterschiedlichen Perspektiven bleibt eines gleich: Die Geschwister autistischer Kinder benötigen individuelle Unterstützung, um die Herausforderungen ihres Familienalltags zu meistern.

Ratschläge für Eltern: So kann das Miteinander gelingen

Theoretische Erkenntnisse bieten wertvolle Grundlagen, aber was Eltern autistischer Kinder besonders brauchen, sind greifbare, alltagsnahe Ratschläge, die ihnen Unterstützung im täglichen Leben geben. Im Folgenden werden praxisnahe Tipps vorgestellt, die auf den Erkenntnissen von Inez Maus basieren und Eltern dabei unterstützen sollen, eine förderliche Umgebung für alle Kinder zu schaffen.

gesunde Rollen bei Gewistern von autistischen Kindern fördern

Gesunde Rollen fördern1

Eltern haben eine wichtige Aufgabe, gesunde Rollen für die Geschwister eines autistischen Kindes zu fördern. Diese sollten in Rollen gestärkt werden, die ihre persönliche Entwicklung unterstützen, wie etwa als Freund, Spielgefährte oder Vertrauter. Rollen, die ihre Freiheit und Entfaltung einschränken, sollten vermieden werden. Vor allem sollte ein Geschwisterkind niemals die Rolle eines Co-Therapeuten übernehmen.

Geschwisterkinder über Autismus aufklären Icon

Frühe und altersgerechte Aufklärung über Autismus1

Um Missverständnisse oder Vorurteile zu vermeiden, sollten Geschwisterkinder zuallererst durch Ihre Eltern über den Begriff des „Autismus“ aufgeklärt werden. Eine frühzeitige und altersgerechte Erklärung stellt sicher, dass keine eigenen Interpretationen zu einem falschen Verständnis oder dem Gefühl ungerechter Behandlung führen.

Ausgleich schaffen: individuelle Momente für Geschwisterkinder1

Ein stabiler Ausgleich zu den intensiven Betreuungsaufgaben für das autistische Kind ist entscheidend. Auch die Geschwisterkinder sollten regelmäßig im Mittelpunkt stehen und Zeiten erleben, in denen sie keine Rücksicht auf ihren autistischen Bruder oder ihre autistische Schwester nehmen müssen. Dieser Ausgleich sollte dabei auf ihre Persönlichkeit und individuellen Interessen abgestimmt sein – vielleicht gibt es ein Spiel, das Ihr Kind schon immer spielen wollte, oder einen Ort, den es schon immer besuchen wollte? Aber auch therapeutische Maßnahmen des autistischen Kindes wie Wasser- oder Tastspiele, die auf Geschwisterkinder oft wie spaßige Aktivitäten wirken, können genutzt werden, um spielerisch gemeinsam Erfahrungen zu sammeln, ohne den Fokus zu sehr auf den Autismus zu legen.

Geschwister von austistischen Kindern emotional unterstützen Icon

Emotionale Stärkung und Umgang mit Gefühlen1

Die emotionale Unterstützung der Geschwister autistischer Kinder ist von zentraler Bedeutung. Geschwister müssen lernen, dass es in Ordnung ist, auch negative Gefühle zu empfinden, und wie sie mit diesen umgehen können. Eltern sollten darüber hinaus sicherstellen, dass die Geschwister Raum für ihre eigenen Bedürfnisse haben, ohne sich ständig auf die besonderen Anforderungen des autistischen Kindes einstellen zu müssen.

Unterstützende Angebote nutzen1

Es gibt einige spezielle Seminare und Freizeitangebote für Geschwister von autistischen Kindern. Diese Programme bieten Gelegenheiten, sich mit Gleichaltrigen auszutauschen und Abstand vom Alltag zu gewinnen. Sie können eine willkommene Abwechslung sein und die Geschwisterbeziehung positiv stärken.

Stärken fürs Leben: die positiven Seiten einer besonderen Geschwisterbeziehung1

Trotz der Herausforderungen, die das Aufwachsen mit einem autistischen Geschwisterkind mit sich bringt, können daraus auch viele positive Aspekte entstehen. Die Autorin befragte zahlreiche erwachsene Geschwister autistischer Menschen, die berichteten, durch das Zusammenleben mit ihrem autistischen Bruder oder ihrer autistischen Schwester Fähigkeiten wie Geduld, Strukturierung, Zeitmanagement und Toleranz entwickelt zu haben. Sie lernten, die Privatsphäre anderer zu respektieren und schätzen Werte, die über das Materielle hinausgehen.

Fazit: Eine Beziehung, die wächst

Geschwisterbeziehungen sind, ob mit oder ohne Autismus, immer eine Herausforderung. Wer hat die besseren Spielsachen, wer bekommt mehr Aufmerksamkeit, wer darf entscheiden, was gespielt wird – die Konfliktpotenziale sind vielfältig. Um das Zusammenleben mit einem autistischen Geschwisterkind gut zu gestalten, ist es entscheidend, frühzeitig und offen miteinander zu kommunizieren. Eltern, die diese Aufgabe bewusst angehen, schaffen eine Umgebung, in der alle Kinder Raum für individuelle Entwicklung und gemeinsame Erlebnisse finden. So wird nicht nur das persönliche Wachstum gefördert, sondern auch die Geschwisterbeziehung gestärkt. Mit der richtigen Unterstützung kann eine starke, lebenslange Bindung entstehen.

Blog und Bücher von Inez Maus

Weitere hilfreiche Ressourcen und Einblicke bietet der Blog von Inez Maus sowie ihre Bücher „Familienbande bei Autismus“, „Geschwister von Kindern mit Autismus“ und „Geschichten für Kinder über Autismus“. Besonders ihre Bilderbücher können Kinder dabei unterstützen, auf kindgerechte Weise die Besonderheiten von Autismus zu begreifen.

  1. Maus, Inez: Geschwister autistischer Kinder, in: Autismus Deutschland e.V.: Autismus. Bildung – Beruf – Lebenszufriedenheit, Karlsruhe, Loeper Literaturverlag, 2024.
  2. Gorjy, R. S. et al.: It´s better than it used to be”: Perspectives of adolescent siblings of children with an autism spectrum condition, in: Child & Family Social Work, 22(4), 1488-1496, 2017.
  3. Kaminsky, L., Dewey. D.: Siblings relationships of children with autism. Journal of Autism an Development Disorders, 2001.