Seit einigen Jahren ist in den Medien immer wieder von einem Anstieg der Autismus-Diagnosen die Rede – man liest von einer ‚Modediagnose‘ oder gar von der ‚Autismus-Epidemie‘.1, 2, 3 Über die möglichen Gründe und Ursachen wird viel spekuliert. Gibt es tatsächlich immer mehr Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung, oder hat der Anstieg an diagnostizierten Fällen andere Hintergründe?
In Zahlen: Zunahme der Autismus-Diagnosen
Die Angabe zur weltweiten Häufigkeit von Autismus-Spektrum-Störungen liegt bei ca. einem Prozent.4 Je nach Region und Studie variieren die Zahlen aber stark. In den USA ermitteln die Centers for Disease Control and Prevention (CDC) regelmäßig die Anzahl der Diagnosen. Für achtjährige Kinder zeigen zusammengefasste Angaben aus mehreren Bundesstaaten: Im Jahr 2000 wurde bei einem von 150 Kindern Autismus diagnostiziert, im Jahr 2010 bei einem von 68 und im Jahr 2020 bei einem von 36 Kindern. Dies entspricht ca. einem Anstieg um das Vierfache.5
Speziell für den Großraum New York erschien Anfang dieses Jahres eine viel beachtete Studie im Fachmagazin Pediatrics. Im Zeitraum 2000 bis 2016 hat sich die Rate an Autismus-Diagnosen bei Kindern mit Intelligenzminderung verdoppelt. Bei Kindern ohne Intelligenzminderung stieg die Zahl der neu diagnostizierten Fälle sogar um das Fünffache im gleichen Zeitraum.6
Autismus: Häufigkeit in Deutschland
Eine Autismus-Statistik für Deutschland mit umfassenden Zahlen zur Entwicklung der Diagnosen gibt es nicht. Doch einzelne Erhebungen zeigen auch hier einen Anstieg: Für die Jahre 2006 bis 2012 gibt eine wissenschaftliche Studie, die auf Krankenkassendaten basiert, eine ungefähre Verdopplung der Fallzahlen an.7 Und auch für die Jahre 2013 bis 2022 zeigen Krankenkassendaten in etwa eine Verdopplung der Fälle.8
Gibt es wirklich immer mehr Autisten?
Bedeutet dies nun, dass mehr Menschen als früher eine Autismus-Spektrum-Störung haben – zum Beispiel, weil äußere Umstände dazu führen, dass die Autismus-Häufigkeit zunimmt? Diese Schlussfolgerung kann aus dem Anstieg der diagnostizierten Fälle nicht ohne weiteres gezogen werden. Vielmehr gehen Fachleute davon aus, dass die Zunahme der Diagnosen verschiedene und miteinander zusammenhängende Hintergründe hat:9
1. Weiterentwicklung der Diagnostik: Was ist autistisch?
In den vergangenen Jahren haben sich die diagnostischen Kriterien für Autismus verändert. Statt der abgegrenzten Formen Frühkindlicher Autismus, Asperger-Syndrom und Atypischer Autismus sieht man Autismus heute als dimensionale Störung innerhalb eines Spektrums – differenziert nach der Intelligenzentwicklung und der möglichen Beeinträchtigung der funktionellen Sprache.10, 11 In das Autismus-Spektrum fallen dabei auch Fälle, die vormals nicht hinzugezählt wurden, insbesondere solche mit eher schwach ausgeprägten Symptomen.9, 10
2. Umfassenderes Screening: Wer gehört dazu?
Neue Studien zur Häufigkeit von Autismus basieren meist auf umfassenden Screeningverfahren mit großen Gruppen. Im Vergleich zu früher werden so mehr Fälle entdeckt. Beispielsweise wird eine Autismus-Spektrum-Störung zunehmend auch bei Mädchen diagnostiziert. Die Fallzahlen bei Mädchen waren vormals oft geringer, was damit zusammenhängen könnte, dass Mädchen unter anderem als sozial angepasster gelten und sich weniger häufig aggressiv verhalten. Soziale Zurückgezogenheit wird bei Mädchen z. B. schnell als ‚schüchtern‘ interpretiert.9, 10
3. Gesellschaftlicher Wandel: mehr Sensibilität
Im Vergleich zu früher gibt es für Autismus heute mehr mediale Aufmerksamkeit und ein größeres gesellschaftliches Bewusstsein. Dazu passt unter anderem, dass Autismus-Spektrum-Störungen bei Kindern heute früher erkannt werden und dass einige Studien in wohlhabenden Gesellschaftsschichten einen besonders hohen Anstieg der Diagnosen bei Kindern ohne zusätzliche Intelligenzminderung beobachten – also bei Kindern mit eher schwächer ausgeprägten Symptomen.6, 9, 12
Exakte Angaben sind schwierig
Für Autismus gibt es keinen eindeutigen Bluttest oder andere, schnell durchzuführende Verfahren – die Diagnostik ist komplex und aufwendig. Die US-amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention greifen für Ihre Erhebungen beispielsweise auf Daten aus Krankenakten, Schulakten und ähnlichen Dokumenten zurück, die Kinder werden nicht klinisch untersucht.10, 12
So gilt es zwar als gesichert, dass die Zahl der Autismus-Diagnosen heute höher ist als früher, genaue und allgemeine Aussagen zur Häufigkeit und der Anstiegsrate der Entwicklungsstörung sind allerdings schwierig zu machen und Studien sind oft nur eingeschränkt vergleichbar. Das Gute an den wachsenden Autismus-Diagnosen und dem stärkeren Bewusstsein ist aber, dass Stigmatisierungen mit der Zeit zunehmend abgebaut werden und betroffene Kinder heute schneller die Hilfe bekommen, die sie benötigen.